Gast-Bloggerin Sibylle Prins über das Stress-Vulnerabilitäts-Modell

Ein möglicher Erklärungsansatz für das Entstehen von Psychosen ist das sogenannte Stress-Verletzlichkeits (Vulnerabilitäts)-Modell. Kurz zusammengefasst besagt es, dass Menschen, die mit Psychosen reagieren, eine höhere Verletzlichkeit (angeboren oder erworben) und verringerte Belastbarkeit haben, und deshalb aufgrund unterschiedlichster Stressfaktoren Psychosen entwickeln können.

Ich bin erst sehr spät mit diesem Modell konfrontiert worden, und lehnte es zunächst ab: „verringerte Belastbarkeit“ ist ja in unserer Welt ein Makel, im Arbeitsleben sowieso, aber auch im Privat- und Freizeitbereich. Hinzu kam die Erfahrung, dass ich manche Situationen, die von Nichtpsychotikern als sehr anstrengend und belastend empfunden werden, locker bewältige oder wegstecke.

Mit der Zeit merkte ich aber, dass da doch was dran ist: Es gibt manchmal Situationen – oft sehr einfache, harmlose -, bei denen mein Durchhaltevermögen sehr gering ist. Soziale Situationen, insbesondere Konflikte mit Menschen, die für mich wichtig sind, können mich manchmal sehr aus der Bahn werfen. Und einige meiner Psychosen sind auch durch positive Ereignisse ausgelöst worden, z.B. Verliebtheiten.  Deshalb denke ich, man muss dieses Modell – was ja nur ein Modell ist und nicht die ganze, komplexe Wirklichkeit – sehr differenziert und individuell für sich nutzen.

Ich kennen nämlich leider Psychose-Erfahrene, die sich aufgrund dieses Erklärungsansatzes überhaupt nichts mehr zutrauen, in jeder Neuerung, jedem unbekannten oder irgendwie anstrengenden oder auch nur emotional getönten Erlebnis gleich Krisenauslöser sehen, die ein unnötig eingeschränktes Leben führen.  Das ist dann auch wieder ungesund.

Ich meine, eigene Grenzen soll man respektieren, sie aber nicht zu eng setzen – und man muss auch manchmal den Mut haben auszuprobieren, wo diese Grenzen eigentlich wirklich liegen. Das lässt sich mit einer gewissen Vorsicht und Maßnahmen zur Rückfallvorbeugung durchaus vereinbaren.

Das eine tun, das andere nicht lassen!

Ein Kommentar

  1. Eigene Grenzen soll man respektieren. Ja, unbedingt! Aber respektiert man sie eigentlich, wenn man sie einer “psychischen Erkrankung” zuschreibt, statt ganz einfach dem Menschsein in der Welt? Ist es eigentlich eine Schwäche, ein Zeichen von besonderer Verletzlichkeit, wenn wir auf unser Leben reagieren? Oder ist es vielleicht eine Stärke, auch wenn unsere Kultur mit dem natürlich-menschlichen Reagieren besonders auf weniger günstige Lebensumstände nicht recht umgehen kann, weshalb sie es gern als Krankheit und ein Zeichen von Schwäche abtut?

    Liebe Grüße aus Dänemark von einer keineswegs besonders verletzlichen oder gar psychisch erkrankten StimmenhörerIn. 😉

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