Thomas Melle: “Die Welt im Rücken”

Im Rowohlt Verlag erschienen ist das neue Buch von Thomas Melle, “Die Welt im Rücken”.

Thomas Melles Buch begeistert sprachlich, aber es ist auch bedrückend und gerade für Betroffene einer psychischen Erkrankung keine leichte Lektüre. In “Die Welt im Rücken” legt Melle offenbar rückhaltlos sein Schicksal mit der bipolaren Erkrankung offen. Wir erfahren von den unkontrollierbaren Auffälligkeiten im Verhalten, im Denken und Fühlen in den psychotischen Manien und in der Depression. Melle beschreibt sich als in der Kontrolle dieser Krankheit, mit der sein Verhalten entgleist, sein sozialer Rückhalt schwindet und die ihn sogar über den Wohnungsverlust in tiefe soziale Abgründe gleiten lässt.

In seinem beruflichen Weg gibt es Kontinuität, aber auch da viel Schaden durch manisches Verhalten. Insbesondere bleibt verstörend im Gedächtnis, wie er seine Verlegerin bei Suhrkamp körperlich angeht auf einem Empfang und daraufhin sogar rechtliche Schritte gegen ihn unternommen werden. Im Privatleben gibt es keine Kontinuität, alles zerbricht immer wieder, muss mühsam wieder aufgebaut werden.

Thomas Melle sagt an einer Stelle, der bipolare Mensch sei eigentlich drei Personen, eine normale und stabile, eine manisch-psychotische und eine depressive. Für die gesunde Person sind die beiden anderen beschämend und geben offenbar auch Anlass zu Selbstverachtung und eine Art von Selbsthass. In den gesunden Zeiten erscheint das Handeln und Denken in den kranken Zeiten so beschämend und peinlich, dass es sehr schwierig ist, es als seiner Person zugehörig zu sehen.

Warum schreibt ein erfolgreicher und hochbegabter Schriftsteller ein solches Buch? Warum sich so präsentieren, mit allen verrückten Gedanken und Handlungen, ohne Schutz, nackt sozusagen, ohne die Möglichkeit an seiner Würde festzuhalten? Melle selbst sagt, dass er sich diese Dinge von der Seele schreiben wollte, um frei zu werden für die Bücher, die er eigentlich schreiben möchte und bei denen ihm diese Erkrankung in die Quere kommt. Aber ist es wirklich erleichternd, wenn jeder von der Zeit im Betreuten Wohnen weiß, von jeder verrückten Textstelle, die sich der psychotischen Manie verdankt, von dem Selbstmordversuch?

Wir leben in einer Zeit, in der sehr viele Menschen auch hochpersönliche Dinge mit anderen Fremden teilen. Und doch: Gibt es nicht Dinge, die nur sehr vertraute Menschen wissen sollten? Es bleibt bei der Lektüre des Buches ein Eindruck von Selbsthass und Selbstverachtung. Vielleicht wäre es befreiender gewesen, mit einem liebevollen Freund seine Geschichte aufzuarbeiten oder mit einem empathischen Therapeuten Distanz zu dem Geschehenen aufzubauen? Gerade aus Betroffenensicht erscheint es mir nicht befreiend, alles an eine literarische Öffentlichkeit zu verkaufen.

Es ist oft ein Gewinn für alle Beteiligten, wenn Betroffene mit ihrer Geschichte offen umgehen können. Aber es sollte dabei doch auch um Würde gehen, um einen gelingenden Weg hinaus aus schwierigen Zeiten. Durch Dorothea Bucks Offenheit mit ihrer Geschichte haben viele Betroffene neue Hoffnung geschöpft und auch gelernt, ihre eigene Geschichte anders zu erzählen. Thomas Melles Buch dagegen lässt den Leser ratlos und bedrückt zurück.

Ein Kommentar

  1. Überrascht war ich von Deiner Rezension von Melles Buch: ich habe das Buch ganz anders gelesen. Ich fand es überraschend, dass ein Betroffener beschreiben kann, wie schwierig sich sein Verhalten in Krankheitsphasen auch für andere Menschen auswirken kann. Und dass er dieses Verhalten dennoch nicht kontrollieren kann. Ich habe durch diese Beschreibung tiefstes Mitgefühl mit ihm empfunden. Und den schönsten Satz fand ich “es ist eine Krankheit, die keine Empathie hervorruft”.
    Das finde ich einen sehr klugen und gleichzeitig berührenden Satz. Denn das stimmt ja leider: Es ist schwer, Mitgefühl zu empfinden, wenn die Krankheit einen Menschen eben sehr rücksichtlos werden lässt. Mich als Angehörige macht diese Beschreibung sehr viel sensibler für Situationen, in denen ich Betroffene erlebe, über die ich mich ärgere. Ich wünschte, ich hätte dieses Buch viel früher gelesen. Ich hätte gelassener und verständnisvoller mit ihr umgehen können.

    Jeder sollte mit seinen Gefühlen so umgehen, wie es zu ihm passt. Ich glaube persönlich nicht, dass man da allgemeine Hinweise geben kann, was besser oder weniger gut ist.
    Dorothea Bucks Buch fand ich interessant. Und ich habe einen Film mit ihr gesehen, in dem ich fand, dass sie eine beeindruckende und sogar witzige Frau ist, die ich sehr gerne noch kennenlernen würde.
    Was ich nur vermisse bei ihr wie bei fast allen Büchern von Betroffenen: sie schreiben niemals darüber, wie sie mit ihrem Verhalten auch das Leben anderer Menschen beeinträchtigt haben. Melle aber tut das und das rechne ich ihm hoch an.

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