Recovery, Medikamente und Lebensqualität

Für mich bedeutet Recovery das Erlangen von guter Lebensqualität mit einer psychischen Erkrankung. Nicht die Erkrankung steht dann im Vordergrund, sondern das gute Leben, das auch mit ihr möglich ist.

In Deutschland denken viele Betroffene und auch andere, dass Recovery bedeutet, dass man keine Medikamente mehr braucht. Recovery ermöglicht dann das erfolgreiche Absetzen der Medikamente.Viele Betroffene machen die Medikamente für eine geringe Lebensqualität verantwortlich. Sie meinen, dass die Medikamente sie träge und dick machen, unfähig zu arbeiten, unattraktiv und so weiter. Wenn man nur die Medikamente absetzen könnte, dann wäre alles besser.

In den USA dagegen, wo der Recovery-Gedanke schon seit den 90er Jahren sehr wichtig ist, denken die meisten Betroffenen, die Recovery erreicht haben, dass Medikamente eine Basis für Recovery sind. Wenn man Medikamente nimmt und eben versucht, einiges privat und beruflich auf die Beine zu stellen, dann wird Recovery möglich. Recovery hat dort viel mehr damit zu tun, ein Studium durchzuziehen, arbeiten zu gehen, ein zufriedenstellendes privates Umfeld zu haben. Und Medikamente gelten dafür als Basis: um eben Akutphasen zu vermeiden, um Krankenhausaufenthalte zu vermeiden, um kontinuierlich auf wichtige Lebensziele hinarbeiten zu können.

Ich glaube, dass wir in Deutschland da oft kurzsichtig sind und den Medikamenten negative Lebensentwicklungen anlasten, die nicht viel mit den Medikamenten zu tun haben. Alleine dadurch, dass man Medikamente schluckt, erreicht niemand Recovery. Aber viele Betroffene werden durch ihren Widerstand gegen die Medikamente immer wieder zurückgeworfen im Leben durch Akutphasen und Krankenhausaufenthalte. Es müssen wahrscheinlich auch wirklich einige Betroffene nur kurzzeitig Medikamente nehmen. Aber die vielen, die nur mit Medikamenten Recovery erreichen können, sollten wir in Deutschland auch nicht geringschätzen.

Ein jeder, der mit Schizophrenie Recovery erreicht, ist ein Held – egal ob er Medikamente nimmt oder nicht.

Ein Kommentar

  1. Ganz so einfach ist es um die Definition des Begriffes “Recovery” in den USA ja auch wieder nicht bestellt. Die heute offiziell anerkannte Definition ist zwar die von der Behindertenbewegung übernommene, von William Anthony geprägte, die Recovery u.a. definiert als “a way of living a satisfying, hopeful, and contributing life even with limitations caused by the illness,” (Anthony, 1993), sie wird aber auch in den USA nicht unbedingt von allen widerspruchslos als alleingültig hingenommen. Einer ihrer Kritiker ist z.B. Ron Unger, LCSW, der, meines Erachtens zurecht, argumentiert, dass “Psychische Erkrankungen” nicht mit bleibender körperlicher Behinderung gleichzustellen sei. In einem Schreiben Ron Ungers an Daniel Fisher vom NEC, National Empowerment Center, heisst es: “Stell dir vor, wie es dir gehen würde, wenn dein Sohn oder deine Tochter durch einen Unfall so zu Schaden käme, dass er oder sie nicht gehen könnte, während die Verletzung behandelt und geheilt werden könnte, und dennoch würde dein Sohn oder deine Tochter von allen nur gebeten zu akzeptieren, dass er/sie eine Behinderung habe, und trotz dieser mit ihrem Leben weiterzukommen, während dies dann als Recovery bezeichnet würde. Zweifelsohne würdest du dies nicht in Ordnung finden.” (Ron Unger, “Probleme mit SAMSHAs Definition von Recovery”, 2008)

    Auch bei anderen Professionellen, wie z.B. Courtenay Harding, findet man Unabhängigkeit vom Behandlungssystem (und damit auch von Medikamenten) als eines der Kriterien für Recovery aufgelistet.

    Inzwischen ist man in den USA dazu übergegangen davon zu sprechen, dass Leute “in recovery” sind, statt dass sie “recovered” sind. Auf diese Art lässt es sich schön umgehen kritisiert zu werden, wenn man Leute, die eben von Behandlung noch abhängig sind, als “recovered” bezeichnet, während man dennoch den Begriff an sich benutzen kann. Ähnlich verhält es sich in Dänemark, dem europäischen Land mit der am stärksten biologisch orientierten Psychiatrie. — Der Chronizitätsgedanke und das Gleichstellen von “psychischen Erkrankungen” mit bleibender Behinderung kommt ja aus der biologischen Psychiatrie. — Auch hier spricht man in der Psychiatrie davon, dass Leute “in recovery” sind, und hat auch das amerikanische Begriffsungetüm “Illness Management Recovery/IMR” übernommen.

    Wie Ron Unger, denke ich, dass es verschiedene Grade von Recovery gibt, und natürlich will auch ich es niemandem absprechen von sich als in gewissem Grade, z.B. sozial, recoveret zu sprechen. Dennoch finde auch ich es ein bisschen bedenklich, von in gewissem Grad recoverten Leuten einfach als “recoveret” zu sprechen, und damit den Eindruck zu wecken, dass deren teilweise Recovery das ultimativ zu Erreichende sei. Wir wissen ja, dass ein Leben ohne die vermeintliche Krankheit und ihre Begrenzungen möglich ist. Warum dann nicht in allen Fällen grundsätzlich danach streben?

    Was die Rolle der Medikamente für Recovery betrifft, so ist die Auffassung in den USA, sogar vielerorts in offiziellen Zusammenhängen, und dank Robert Whitakers, inzwischen nicht mehr ganz so eindeutig. Seit “Anatomy of an Epidemic” lässt es sich nicht mehr so einfach unter den Teppich kehren, dass die Medikamente, obgleich vielleicht nicht immer, aber doch oft, und besonders wenn sie “vorbeugend”, kontinuierlich über längere Zeit eingenommen werden, vollständige Recovery erschweren oder gar verhindern.

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